Werte und Wertewandel

Werte stellen Orientierungspunkte für das Handeln von Individuen, sozialen Gruppen und Organisationen dar. Eine anthropologische Begründung für die hohe Bedeutung der Werte ist in der mangelnden Instinktausrüstung des Menschen zu suchen, der als ein Mängelwesen aufgefasst wird. Er benötigt Leitlinien für sein Handeln, um im sozialen Kontext zu überleben. So sind Orientierungen wie Verantwortung, Ehrlichkeit, Mitmenschlichkeit, Familie, Selbstständigkeit, Freiheit, Gleichheit, Sparsamkeit oder auch Fleiß Werte, die durch die Sozialisation vermittelt werden. Nach der jüngsten Europäischen Wertestudie steht in 32 Ländern West- und Osteuropas die Verantwortung als Erziehungsziel an erster Stelle (siehe Grafik). Für Wertwandelforscher gelten Werte einerseits als kulturell ausgeformt und in Ethik- und Rechtssystemen institutionalisiert, woraus sich Sanktionen ableiten lassen. Andererseits können sie auch als nicht institutionalisiert, d.h. als individualisiert betrachtet werden und obliegen dann der persönlichen Wertfindung. Werte sind grundsätzlich wandelbar, gleichgültig ob sie institutionalisiert sind (Umbau der Institutionen) oder nicht. Wird vom Wertewandel gesprochen, dann meint man aber meistens den mehr oder weniger spontanen Wandel in den individuellen Wertprioritäten. Besonders in sozialen Marktwirtschaften übt der plurale Wertekanon einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Marktgeschehen aus. Das Thema Wertewandel beschäftigt die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Diskussion seit Beginn der siebziger Jahre. Einen ersten Wertwandelschub (Helmut Klages) in Form einer Abwendung von bürgerlichen Tugenden (z.B. Höflichkeit, gutes Benehmen, Sauberkeit, Sparsamkeit) stellte man zwischen 1967 und 1972 fest. Hier ging es um die Ablösung von fast schon 250 Jahre alten traditionellen Erziehungszielen durch neue Werte wie mehr Selbstentfaltung, -bestimmung und Lebensgenuss. Die Dominanz dieser Werte hielt bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre an. Ab dann erlebte man allmählich wieder eine gewisse Renaissance traditioneller Werte wie Arbeitsethik, Sparsamkeit und Höflichkeit, ohne aber die neuen Werte vergessen zu haben. So zeigt sich, dass es zwischen traditionellen und neuen Werten weniger Widersprüche gibt als oft angenommen. Leistung, Arbeit bei gleichzeitiger Freude am Leben werden mehr und mehr als gleichwertige Ziele anerkannt. Uneinig ist man sich noch über mögliche Ursachen des Wertewandels. Eine Ursache wird in der Knappheit verschiedenartiger Güter zur Lebensbewältigung gesehen (Bedürfnistheorie, A. H. Maslow) und eine andere zum Beispiel im Prozess der Modernisierung, der mit einem steigenden Bedarf an individualistischer Selbstentfaltung einhergeht. Besonders der Speyerer Wertforschung ist die Erkenntnis zu verdanken, dass die voneinander unabhängigen Dimensionen der Pflicht- und Akzeptanzwerte einerseits und die der Selbstentfaltungswerte andererseits nebeneinander Bestand haben können. Bei einer Typisierung entwickelte man fünf verschiedene Wertetypen: Ordnungsliebende Konventionalisten, perspektivlose Resignierte, nonkonforme Idealisten, hedonistische Materialisten und aktive Realisten. Letztere stellte sich Ende der neunziger Jahre mit 36 Prozent als die stärkste Teilgruppe in der Bevölkerung zwischen 18 und 30 Jahren dar (insgesamt: 34 Prozent). In ihrer Persönlichkeit verdichten sich die polar scheinenden Werte zu einer Wertsynthese: Aktive Realisten sind in der Lage, auf Herausforderungen bei hoher Erfolgsorientierung pragmatisch zu reagieren, konstruktiv-kritikfähig zu sein und dabei eine starke Eigenverantwortung im Sinne von Selbstentfaltung zu entwickeln (kooperative Selbstvermarkter, H. Klages). Solche Haltungen haben auch ihre Wirkungen in der Arbeitswelt; gerade hier sind infolge des Strukturwandels der Arbeit und der modernen dezentral verwendbaren IuK-Techniken Werte erforderlich geworden, die mit denen der aktiven Realisten weitgehend konform sind. .

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